Reiten lernen in der Heinestraße
Wo heute ein deutscher Diskonter und ein jüdischer Supermarkt ihre Waren anbieten, stand bis in die letzten Kriegstage eine Reitschule mit bemerkenswerter Architektur.
Text und Fotos: Bernhard Odehnal, Archiv Wien Museum


Es ist nicht gerade das schönste Eck der Leopoldstadt. Eher das Gegenteil. Das siebenstöckige Wohnhaus an der Kreuzung Heinestraße und Zirkusgasse ist ein gesichtloser Bau aus den 1960er Jahren, die Fassade mit hellbraunen Zementplatten verkleidet. Dem Haus vorgelagert ist ein Supermarkt.
Bis kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs stand an diesem Eck noch ein Schmuckstück des Grätzels. 1887 wurde hier eine Reithalle gebaut, benannt nach dem Reitlehrer und Hausbesitzer Josef Schawel. Der Architekturstil war, wie damals üblich, eklektisch. Er imitierte aber nicht die Gotik, wie etwa der nahe gelegene Nordbahnhof oder die Votivkirche. Sondern die deutsche Renaissance.
NICHTS MEHR VERPASSEN

Die Schawel’sche Reitschule hatte einen Zwiebelturm und mehrere Erker. Und eigentlich passte das weitläufige Gebäude schon damals nicht so recht in die Umgebung. Aber es war so auffällig, dass die heutige Heinestraße damals „Schawelallee“ genannt wurde. Später wurde sie in “Kaiser-Josef-Straße” und in der ersten Republik nach dem deutschen Dichter umbenannt.
Der Ort war für eine Reitschule naheliegend. Die heutige Heinestraße war die direkte Verbindung vom grünen Prater in den Augarten. Hier konnten der Adel und das Bürgertum hoch zu Ross promenieren und sich dem gemeinen Volke zeigen. In der Zwischenkriegszeit hatte man für galoppierende Grafen freilich wenig Verständnis. Zudem war der Siegeszug des Automobils nicht mehr aufzuhalten. Aus der Reitschule wurde die „Heine-Garage“.
Tankstelle mit kommunistischer Vergangenheit
Die Fliegerbomben der Alliierten trafen Schawels Gebäude direkt. Ein Foto von 1945 zeigt einen riesigen Schutthaufen, aus dem nur noch die Kamine und ein paar Mauerreste ragen.
Wo heute der Supermarkt „Lidl“ Diskontwaren verkauft, stand bis 2016 eine “Turmöl”-Tankstelle. Die Firma gehörte Jahrzehnte lang Strohmännern der Kommunistischen Partei Österreichs. Über Turmöl machte die KPÖ bis zur Wende Geschäfte mit den Ländern des Warschauer Pakts und verdiente sehr gut dabei. Erst 2003 musste die Partei ihre einstige Cashcow verkaufen.
Im Erdgeschoß des Wohnhauses an derselben Adresse bietet der jüdische „Shefa-Markt“ Mazzes, Hummus aus Israel oder “Koscheres für Pesach” an. Im Internet wird er als einer der größten koscheren Supermärkte in Europa beschrieben. An die ehemalige Reitschule erinnern nur noch vergilbte Fotos.
Bernhard Odehnal lernte Journalismus bei der Stadtzeitung „Falter“ und war danach als Korrespondent und Reporter für österreichische und Schweizer Medien tätig. 2025 kehrt er mit der Gründung von „Zwischenbrücken“ in den Lokaljournalismus zurück. Er lebt in der Leopoldstadt.